Thema des Tages
Wissenschaft kompakt
"Eisberg voraus!"
Nach 25 Jahren kommt am morgigen Donnerstag erneut der Film ?TITANIC?
in die Kinos, diesmal in 4K UHD Auflösung. Doch nicht nur der Film
hat den Untergang des Luxusdampfers berühmt gemacht, sondern auch die
Umstände. Was lässt sich heute noch über die Wetterlage am
Unglückstag sagen?
Im April 1912 stach das damals größte Schiff der Welt, die RMS
TITANIC, in See. Auf ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New
York ereilte sie jedoch eine schicksalsreiche Katastrophe. Das Schiff
rammte etwa 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland einen Eisberg
und sank innerhalb weniger Stunden auf den Grund des Meeresbodens.
Über 1500 Menschen verloren in den eiskalten Wassermassen ihr Leben.
Kate Winslet war eine der glücklichen Überlebenden, zumindest in
ihrer Filmrolle, während Leonardo DiCaprio unterging. Diese
Geschichte ist wohl den meisten bekannt, doch die wenigsten haben
sich vermutlich größere Gedanken über das Wettergeschehen gemacht.
Der Morgen des 14. Aprils 1912 begann in Bezug auf das Wetter über
dem Nordatlantik unspektakulär. Bei starker Stratocumulusbewölkung
und Temperaturen zwischen 13 und 15 Grad blies ein frischer Wind aus
südlichen Richtungen. Im Laufe des Vormittags durchquerte die RMS
TITANIC eine Kaltfront. Es kam vereinzelt zu leichten Schauern.
Rückseitig der Front nahm der Wind vorübergehend noch etwas zu und
drehte dabei auf Nordwest. Gleichzeitig sank die Lufttemperatur auf
etwa 10 Grad ab. In der Unglücksnacht weitete sich ein Hoch über dem
Nordosten Kanadas weiter ostwärts aus. Die RMS TITANIC kam dabei am
Abend des 14. Aprils in dessen Einflussbereich. Der Himmel klarte
auf. Es herrschte eine sternenklare Nacht ohne Mondschein vor. Die
Temperaturen nahmen nochmals signifikant ab und lagen nun um den
Gefrierpunkt. Auch die Wassertemperaturen sanken auf etwa 0 Grad ab.
Es herrschte absolute Windstille vor.
Kurz vor Mitternacht wurde dann in geringer Entfernung zum Schiff ein
Eisberg gesichtet, obwohl die RMS TITANIC der damals empfohlenen
südlicheren Route bei der Überfahrt folgte. Der Winter und auch das
Frühjahr 1912 waren im Nordatlantik sehr kalt. Im Vergleich zu den
Jahren davor konnten somit einige Eisberge im Labradorstrom rund um
Neufundland in südlichere Breiten vordringen. Die RMS TITANIC
startete ein Ausweichmanöver, doch konnte die Kollision nicht mehr
verhindert werden, da die Schiffsgeschwindigkeit zu hoch war und der
Eisberg schon zu nahe. Der Eisberg rammte mehrere Lecks in den
Schiffsrumpf. Innerhalb der ersten Stunde gelangten zwischen 22000
und 25000 Tonnen Wasser in das Schiffsinnere. Die Besatzung versuchte
noch über zwei Stunden die einströmenden Wassermassen zu
kontrollieren bevor das Schiff schließlich sank.
So harmlos die Wetterlage auch klingen mag, ganz ohne Sturm, Gewitter
oder plötzlich auftretenden Monsterwellen, so birgt sie auch einige
Tücken. Es stellt sich die Frage, warum der Eisberg erst so spät
gesichtet wurde. Vor über 100 Jahren gab es noch kein Eisradar wie es
heutzutage auf modernen Schiffen gibt. Nach den Überlieferungen gab
es an Bord der RMS TITANIC auch keine Ferngläser, sodass die reine
Augenbeobachtung für Sicherheit sorgte. Die Nacht war sehr dunkel, da
der Mondzyklus in der Neumondphase lag. Zum anderen herrschte durch
den Hochdruckeinfluss und die damit verbundene Windstille
spiegelglatte See vor. Es konnten also keine brechenden Wellen an
Eisbergen gesehen werden, was die Sichtbarkeit zusätzlich
verschlechterte. Eine weitere Theorie, die das Erkennen von Eisbergen
erschweren würde, ist die sogenannte Super-Refraktion. Dieses
Phänomen tritt bei Inversionswetterlagen auf, bei der eine wärmere
Luftmasse über einer kälteren Luftmasse liegt. Die besonderen
Verhältnisse beeinflussen die Brechung des Lichts und können den
Eindruck eines doppelten Horizonts erzeugen. Der echte Horizont
verschwimmt dabei unter dem doppelten Horizont. Ob es in der Nacht
zum 15. April im Bereich des Unglücksortes zu einer Super-Refraktion
gekommen ist, lässt sich heute nicht mehr eindeutig beweisen.
Dabei stellt sich die Frage, wie man heute 111 Jahre nachdem Ereignis
überhaupt noch soviel über die Wetterlage wissen kann. Zu diesem
Zeitpunkt gab es noch keine Satelliten, kein Wetterradar oder
automatische Messungen von Wetterdaten. Es gibt aber Augenzeugen.
Etwa 700 Menschen habe die Katastrophe überlebt und ihre
Beobachtungen in den unterschiedlichen Untersuchungsausschüssen
geschildert. Auch die Beobachtungen der Besatzung der RMS CARPATHIA,
die zur Rettung der Schiffbrüchigen am Unglücksort eintraf, konnten
herangezogen werden. Wenn auch 1912 noch keine automatische
Datenerfassung stattfand, so wurden meteorologische Daten wie
beispielsweise Wind, Seegang und Temperaturen in der Schifffahrt
bereits systematisch und regelmäßig erfasst. In sogenannten
Schiffsjournalen wurden mindestens alle vier Stunden Eintragungen der
Messungen und Beobachtungen vorgenommen. Im Archiv des Deutschen
Wetterdienstes in Hamburg liegen über 37000 solcher Schiffstagebücher
aus den Jahren 1826-1940. Das Journal der RMS TITANIC existiert
leider nicht mehr. Im Archiv des Deutschen Wetterdiensten liegen für
April 1912 aber insgesamt 34 Schiffstagebücher, die Auskunft über die
Situation im Nordatlantik geben können. Dabei berichten sie über eine
ungewöhnlich weite Ausdehnung von Eisfeldern und Eisbergen südöstlich
von Neufundland. Die Wettersituation wurde zudem von verschiedenen
numerischen Modellen reanalysiert. Die Simulationen sowohl vom
amerikanischen Wetterdienst (NOAA) als auch vom Europäischen Zentrum
für Mittelfristvorhersage (EZMW) zeigen ein ähnliches Bild und
stimmen mit den Augenbeobachtungen überein. Bei relativ hohem
Luftdruck über dem östlichen Kanada und Neufundland, mit Werten über
1030 hPa im Schwerpunkt des Hochs, herrschten Mitte April 1912 in der
Region um den Unglücksort ungewöhnlich kalte Temperaturen vor.
Der Untergang des Luxusschiffs löste in der Bevölkerung einen Schock
aus, auch wenn es nicht das erste Schiff war, das in dieser Gegend
havarierte. Im Zuge dessen fand im November 1913 die erste
internationale SOLAS-Konferenz statt (Safety Of Life At Sea). Dort
wurden zum ersten Mal Mindestanforderungen an die
Sicherheitsstandards auf Handelsschiffen vertraglich festgehalten.
Des Weiteren wurde die Internationale Eis Patrouille 1914 ins Leben
gerufen. Bis heute wird im Bereich der Labradorsee die Ausdehnung der
Eisberggrenze kontrolliert und an die Unterzeichner des Pakts
übermittelt. Auch in den Produkten für die Seeschifffahrt des
Deutschen Wetterdienstes taucht diese Eisberggrenze auf und wird
unter anderem per Funk an die Schiffe weitergegeben. Heutzutage wären
also die Wahrscheinlichkeiten, dass Leonardo DiCaprio die
Schiffspassage überleben würde also deutlich höher.
Dipl.-Met. Marcel Schmid
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 08.02.2023
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