Thema des Tages
Wissenschaft kompakt
Das Ostseesturmhochwasser 1872 (Teil 1/2)
Normalerweise ist vergangenes Wetter für die Bevölkerung wie die
Zeitung von gestern: uninteressant. Doch katastrophale
Wetterereignisse brennen sich zunächst in die Köpfe der Betroffenen
ein und werden anschließend in historischen Dokumenten detailliert
überliefert. Ein solches Extremereignis soll heute näher beleuchtet
werden.
An diesem Wochenende (12. und 13. November) jährt sich zum 150. Mal
eine der folgenschwersten Naturkatastrophen an der westlichen
Ostseeküste der letzten Jahrhunderte: das Ostseesturmhochwasser 1872.
In jener Nacht wurden die küstennahen Bewohner von einer, nach
heutiger Definition, sehr schweren Sturmflut heimgesucht, die allein
in den deutschen Gebieten verschiedenen Quellen zufolge mindestens
271 Tote forderte und tausenden Menschen das Obdach kostete. Darüber
hinaus kamen unzählige Tiere in den Fluten ums Leben und die
öffentliche sowie private Infrastruktur auf Land und See wurde massiv
beschädigt. Doch wie konnte es zu einem solchen Extremereignis
kommen?
Zunächst muss ein solches Hochwasser im Bereich der Ostsee von den
deutlich bekannteren und auch häufigeren Sturmfluten an der
Nordseeküste unterschieden werden. Im Gegensatz zu den
tidenabhängigen Ereignissen der Nordsee sind die Schwankungen
zwischen Ebbe und Flut in der Ostsee deutlich geringer. Ursächlich
dafür ist die Eigenschaft der Ostsee als sogenanntes
"halbgeschlossenes Randmeer", womit vor allem die herrschenden
Windverhältnisse und -entwicklungen in den Mittelpunkt der
Hochwasservorhersagen rücken - die astronomischen Randbedingungen
können somit in erster Näherung vernachlässigt werden.
Grundsätzlich kann man sich die Ostsee als eine besonders große
Badewanne vorstellen, in der die Wassermassen aber alles andere als
stationär lagern, sondern den äußeren dynamischen meteorologischen
Einflüssen direkt unterworfen sind. Beispielsweise senkt sich der
Meeresspiegel bei einem ablandigen Wind (Windrichtung vom Land aufs
Meer) vor der Küste, im Gegensatz dazu erhöht er sich bei einem auf
die Küste gerichteten (auflandigem) Wind deutlich. Dazu kommt, dass
beispielsweise der Durchzug eines Tiefs keine statischen
Windverhältnisse verursacht, sondern es typischer Weise zu deutlichen
Veränderungen der Windrichtung und -stärke innerhalb kürzester Zeit
kommen kann. Damit sind folglich auch die unterschiedlichen
Küstenabschnitte einer schnellen zeitlichen Veränderung der
Gefährdung unterworfen.
Zur damaligen Zeit war die meteorologische Wissenschaft natürlich
noch in den Kinderschuhen und weit von jenen prognostischen
Vorhersageleistungen entfernt, die wir heute mit den mittlerweile
meist zuverlässigen und hochaufgelösten atmosphärischen
Wettermodellen erreichen. Gleiches gilt für die darauf aufbauenden
Modelle zur Wasserstandvorhersage. Auch die damalige Quantität der
Beobachtungsdaten ist mit den heutigen Möglichkeiten nicht
vergleichbar. Nichtsdestotrotz kann die historische Wetterlage von
damals aus den verfügbaren Daten berechnet werden, wenngleich man auf
einen gewissen Grad an Genauigkeit verzichten muss. Zur Berechnung
behilft man sich dabei statistischen Methoden der heutigen Zeit und
vertraut auch auf die mittlerweile etablierte Ensembletechnik. Ein
sehr bekannter und frei verfügbarer Datensatz ist beispielsweise aus
dem Projekt 20CR der NOAA entstanden, das einen globalen
atmosphärischen Datensatz des Wetters von 1836 bis 2015 generierte.
In diese Zeit fallen unter anderem auch markante historische
Wetterereignisse wie das Ostseesturmhochwasser 1872.
Die Analysen der Wetterkarten für den damaligen Zeitraum zeigen
eindeutig, dass auch diese Naturkatastrophe (wie auch viele andere)
nicht die eine monokausale Ursache aufweist. Vielmehr ist es eine
nachteilige Kombination von Wetterlagen, die kumuliert in einer
besonders gefährlichen Situation münden. So war die Wetterlage im
November 1872 bereits von Monatsbeginn an durch eine überwiegend
westliche Großwetterlage gekennzeichnet. Im Bodendruckfeld standen
sich häufig ein kräftiges Tief über Skandinavien und eine
Hochdruckzone mit Schwerpunkt über Südwesteuropa und dem westlichen
Mittelmeerraum gegenüber. Daraus entwickelte sich eine lang
anhaltende und kräftige westliche Strömung, die sich in der ersten
Novemberdekade immer wieder regenerieren konnte. Zudem verschärfte
sich der Gegensatz zwischen dem hohen Luftdruck über Südeuropa und
den Tiefs über Skandinavien mit Fortdauer zunehmend. Der daraus
resultierende starke westliche Wind trieb damit über mehrere Tage
hinweg Wasser in die östliche und nördliche Ostsee, das via Skagerrak
und Kattegat durch weiteres Ozeanwasser ersetzt werden musste. So
gibt es Berichte von deutlich unterdurchschnittlichen Wasserständen
(bis 90 cm unter Mittelwasser) in der Flensburger Förde sowie der
Kieler und Lübecker Bucht.
Etwa um den 10.11.1872 änderte sich die bisherige Westwetterlage zwar
grundlegend, das Fundament für die kommende Katastrophe war damit
aber gelegt. Die spannende weitere meteorologische Entwicklung und
einen Einblick in die massiven Folgen für die Anrainer der westlichen
Ostsee sind aber erst im zweiten Teil des Themas des Tages zu finden
(Veröffentlichung am 13.11.2022).
Dipl.-Met. Robert Hausen, Mag.rer.nat. Florian Bilgeri
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 12.11.2022
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