Thema des Tages

Die Krux der Irreversibilität 

Das Klimasystem ist kein träges Faultier, das immer nur allmählich 
auf Änderungen reagiert. Vielmehr können einige Faktoren des 
Erdsystems plötzlich in einen neuen, unumkehrbaren Zustand versetzt 
werden. Die Rede ist von sogenannten Kipppunkten.

Unser Klimasystem ist ein komplexes Zusammenspiel: Ozean, Land, 
Atmosphäre, Biosphäre und Eismassen sind keine "isolierten" 
Komponenten, sondern vielmehr in stetiger Wechselwirkung miteinander.
Man könnte dabei vielleicht meinen, dass allmähliche Änderungen auch 
zu einer allmählichen Reaktion führen, so wie wir es aus vielen 
Bereichen des Lebens kennen. Doch dem ist nicht so: Auch kleine 
Änderungen können plötzliche und drastische Auswirkungen haben. Man 
kann das mit einer Kaffeetasse vergleichen, die langsam über den 
Tischrand geschoben wird. Zunächst passiert nichts, doch plötzlich 
erreicht sie einen kritischen Punkt, an dem sie kippt. 

Im Klimasystem gibt es gleich mehrere solcher ?Kipppunkte? oder 
"Kippelemente" (englisch: "Tipping points"), für die gilt: Wird ein 
bestimmter Schwellenwert erreicht, kann das zu schnellen und 
unumkehrbaren Veränderungen führen. Genau in dieser Irreversibilität 
liegt das große Problem, denn selbst wenn die Ursache für "das 
Kippen" anschließend zurückgenommen werden würde, würde das System 
Klima nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren. Wie 
die zerbrochene Kaffeetasse. Oder um es mit einem Beispiel von Dr. 
Eckhart von Hirschhausen zu beschreiben: Wenn man ein Ei kocht, wird 
es hart - und es bleibt hart, auch wenn das Wasser wieder abkühlt.

Bereits das Überschreiten einzelner Kipppunkte hat also weitreichende
Umweltauswirkungen. Zudem besteht zusätzlich das Risiko, dass durch 
Rückkopplungsprozesse weitere Kipppunkte im Erdsystem überschritten 
werden und so eine dominoartige Kettenreaktion ausgelöst wird.  Quasi
eine "Kipp-Kaskade".

Doch was sind nun diese Kipppunkte?

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) teilt sie in drei
Kategorien: 1. Schmelzende Eiskörper (zum Beispiel Arktisches 
Meereis), 2. Veränderte Strömungssysteme (zum Beispiel Atlantische 
Thermohaline Zirkulation) und 3. Bedrohte Ökosysteme (zum Beispiel 
Amazonas-Regenwald).

Zehn unterschiedliche Kippelemente sind in der beigefügten Grafik 
dargestellt. Drei Beispiele: 

- Das grönländische Festlandeis ist bis zu 3 km dick, verliert durch 
Abschmelzen jedoch an Höhe. Seine Oberfläche, die sich jetzt noch in 
hohen und damit kalten Luftschichten befindet, sinkt und wird somit 
wärmeren Temperaturen ausgesetzt. Das wiederum verstärkt das 
Abschmelzen weiter. Sobald eine bestimmte globale Temperaturzunahme 
überschritten ist, lässt sich das vollständige Schmelzen des 
Eispanzers nicht mehr aufhalten, was Wissenschaftlern zufolge zu 
einem Meeresspiegelanstieg von bis zu sieben Metern führen kann.

- Der Amazonas-Regenwald ist ein gewaltiger Kohlenstoffspeicher. 
Circa ein Viertel des weltweiten Kohlenstoffaustauschs zwischen 
Atmosphäre und Biosphäre finden dort statt, er ist quasi die "grüne 
Lunge" der Erde. Durch extreme Trockenheit werden die Bäume so stark 
angegriffen, dass sie absterben. Weiter fortschreitende Abholzung 
verstärkt das Problem. Bei einem Umkippen des Regenwaldes etwa in 
eine Savannen-Vegetation könnte also kaum oder nur noch wenig 
Kohlendioxid gebunden werden und enorme Mengen des Treibhausgases 
blieben in der Atmosphäre.

- Im hohen Norden befindet sich auf einer Fläche von 10 Mio. km² 
(etwa der 30-fachen Fläche Deutschlands) Permafrost. Mehrere Hundert 
Milliarden Tonnen Kohlenstoff sind dort seit der letzten Eiszeit 
eingelagert. Wenn er auftaut, zersetzt sich das darin erhaltene 
organische Material und es wird Kohlenstoff und Methan frei. Der 
Auftauprozess schreitet derzeit viel schneller voran, als selbst die 
pessimistischsten wissenschaftlichen Studien annahmen. Inzwischen ist
das Auftauen so weit vorangeschritten, wie es in den Szenarien des 
IPCC für das Jahr 2090 prognostiziert wurde. 

Bei den düsteren Prognosen also resignieren und einfach hoffen, dass 
"nichts kippt"? Dazu sei gesagt, dass jedes (gar jedes Zehntel) Grad 
einen Unterschied macht ? siehe zweite beigefügte Grafik. Und im 
Gegensatz zur kaputten Kaffeetasse, die einfach neu gekauft werden 
könnte, haben wir diese Möglichkeit bei der Erde leider nicht.

Dipl.-Met. Magdalena Bertelmann
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale 
Offenbach, den 20.09.2021

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