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Thema des Tages
Gewitter ist nicht gleich Gewitter – die Multizelle, eine
Gewitterfamilie
Es vergeht kein Sommer ohne Gewitter. Sie treten in ganz
unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Im heutigen Thema des Tages wird die Multizelle vorgestellt.
Nicht selten halten Gewitter die Warnmeteorologen des Deutschen Wetterdienstes auf Trab, da sie oft recht unvermittelt entstehen, plötzlich ihre Zugrichtung ändern oder sich wieder auflösen. Präzise Gemeinde-genaue Gewitterwarnungen können daher meist erst relativ kurz vor Eintreffen des Gewitters für Ihren Ort ausgegeben werden. Völlig unberechenbar sind sie dennoch nicht. Bereits vor Entstehung der ersten Gewitter kann man eine Analyse der „Zutaten“ wie Feuchtegehalt der Atmosphäre, Änderung von Wind und Temperatur mit der Höhe sowie bodennahe Luftdruck- und Temperaturverteilungen vornehmen. Damit kann der Meteorologe Gebiete eingrenzen, in denen mit Gewittern zu rechnen ist und welcher Gewittertyp dort am wahrscheinlichsten ist.
Im Thema des Tages vom vergangenen Donnerstag (4. Juli), welches die Einzelzelle als einfachste Gewitterform vorgestellt hat, wurde bereits erklärt, dass Gewitter in erster Linie dazu dienen, große vertikale Temperaturunterschiede in der Atmosphäre abzubauen. Dazu steigt zunächst die warme bodennahe Luft im sogenannten
Aufwindbereich (engl. Updraft) in große Höhen auf. Als
Ausgleichsbewegung bildet sich im weiteren Verlauf ein Abwindbereich (engl. Downdraft), in dem die kühlere Luft aus der oberen Troposphäre Richtung Boden strömt.
Eine Einzelzelle besteht lediglich aus einem einzigen Auf- und Abwindbereich und entsteht meist in einer Umgebung mit nur geringen horizontalen Luftdruck- und Temperaturunterschieden, wodurch sich der (meist schwache) Wind mit der Höhe kaum ändert. Bei der sogenannten „Multizelle“ handelt es sich hingegen um einen Zusammenschluss mehrerer Gewitterzellen in verschiedenen Entwicklungsstadien mit mehreren Auf- und Abwindbereichen (siehe Abbildung). Bildlich gesprochen ist eine Multizelle eine große Gewitterfamilie, die sich zu einem Mehrgenerationenhaushalt vereint hat.
Alles beginnt mit einer Gewitterzelle, bestehend aus Up- und Downdraft. Diese Initialzelle wird – um beim Bild der Großfamilie zu bleiben – auch als „Mutterzelle“ bezeichnet (Zelle 1 in der Skizze). Sie bildet sich in einer Umgebung mit horizontalen
Temperaturunterschieden. Entscheidend ist hierbei, dass dort der Wind mit der Höhe zunimmt und dabei auch seine Richtung ändert -beides zusammen bezeichnet man als vertikale Windscherung. (Auf die thermodynamischen Hintergründe dieses Zusammenhangs soll an dieser Stelle verzichtet werden und kann der interessierte Leser im DWD-Lexikon unter dem Stichwort „Baroklinität“ nachlesen.) Durch die unterschiedlich starken Winde kann der Downdraft am Boden nicht wie bei der Einzelzelle symmetrisch ausfließen. Auf der warmen Seite des Gewitters (für den Experten: in gegensätzlicher Richtung zum Schervektor) fließt der Downdraft besonders stark aus, wodurch sich eine sogenannte Böenfront formiert. Diese erkennen Sie als Beobachter daran, dass bereits vor dem aufziehenden Gewitter der Wind
schlagartig und böig auffrischt und dabei die Temperatur abrupt sinkt. Die kalte und damit schwerere Luft (engl. Outflow) schiebt sich „mit Schmackes“ unter die Warmluft, sodass letztere an der Vorderseite der Böenfront gehoben wird. Der Aufwindbereich der zweiten Gewitterzelle, der sogenannten „Tochterzelle“, ist hiermit geboren, während sich der Updraft der Mutterzelle wieder abschwächt. Durch den zusätzlichen Hebungsantrieb der ausfließenden Kaltluft fällt der Updraft der Tochterzelle oftmals stärker aus als der der Mutterzelle. Da bei moderater Windscherung der Outflow mächtiger als die nach oben nachströmende Warmluft (engl. Inflow) ist, läuft auch dieser Updraft in den Kaltluftbereich und schwächt sich ab. Unter günstigen Bedingungen können sich entlang der Böenfront mehrfach hintereinander neue Tochterzellen bilden (Zellen 3 bis 5). Die heftigsten Niederschläge treten dabei im Bereich des stärksten Up- und Downdrafts hinter der Böenfront auf (Zelle 3 in der Skizze).
Große horizontale Temperaturänderungen findet man zum Beispiel entlang einer Kaltfront. Im Sommer entsteht allerdings häufig schon im Vorfeld der Kaltfront, also noch im Warmluftbereich, ein flaches rinnenförmiges Tief, in das am Boden von beiden Seiten entlang einer Konvergenzlinie die Luft zusammenströmt und zum Aufsteigen gezwungen wird. Durch diese zusätzliche Hebung entwickeln sich dort oft die ersten Gewitter. Da vor der Kaltfront weiterhin Warmluft einfließt, nimmt der Wind mit der Höhe nicht nur zu, sondern wird zusätzlich nach rechts in Richtung der wärmsten Luft abgelenkt. Dies führt dazu, dass die Tochterzellen meist an der rechten Flanke der alternden Zellen entstehen, sodass die Verlagerung des Gewitterkomplexes diskontinuierlich wirkt und bezüglich der mittleren großräumigen Strömung nach rechts Richtung der wärmster Luft ausschert.
Multizellen sind in Mitteleuropa die am häufigsten vorkommende Gewitterform. Sie besitzen einen Durchmesser von ca. 15 bis 30 Kilometern und können im Extremfall mehrere Stunden existieren, wohingegen die einzelnen Zellen des Gewitterkomplexes wie bei der Einzelzelle nur etwa 10 bis 60 Minuten bestehen. Ihre Dynamik ist wesentlich stärker, sodass die Wettererscheinungen heftiger als bei der Einzelzelle ausfallen. Dabei kommt es entlang der Böenfront zu Sturmböen sowie zu heftigem Starkregen mit Gefahr lokaler
Überschwemmungen und mittelgroßem Hagel. In seltenen Einzelfällen verursachen Multizellen auch schwache Tornados.
Im nächsten Teil dieser Serie geht es dann um die Superzelle…
Dr. rer. nat. Markus Übel (Meteorologe)
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 06.07.2019
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