Thema des Tages


Wissenschaft kompakt
Kleine Gewitterkunde - Teil 2: Die Multizelle


Gewitter treten in ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Im 
heutigen Thema des Tages wird die Multizelle vorgestellt. 


Nicht selten halten Gewitter die Warnmeteorologen des Deutschen 
Wetterdienstes auf Trab, da sie oft recht unvermittelt entstehen, 
plötzlich ihre Zugrichtung ändern oder sich wieder auflösen. Präzise 
Gemeinde-genaue Gewitterwarnungen können daher meist erst relativ 
kurz vor Eintreffen des Gewitters für Ihren Ort ausgegeben werden. 
Völlig unberechenbar sind sie dennoch nicht. Bereits vor Entstehung 
der Gewitter kann man eine Analyse der "Zutaten" wie Feuchtegehalt 
der Atmosphäre, Änderung von Wind und Temperatur mit der Höhe 
(Scherung) sowie der atmosphärischen Schichtung vornehmen. Damit kann
der Meteorologe Gebiete eingrenzen, in denen mit Gewittern zu rechnen
ist und welcher Gewittertyp dort am wahrscheinlichsten ist.

Im Thema des Tages vom vergangenen Donnerstag (20.07.2023), welches 
die Einzelzelle als einfachste Gewitterform vorgestellt hat, wurde 
bereits erklärt, dass Gewitter in erster Linie dazu dienen, große 
vertikale Temperaturunterschiede in der Atmosphäre abzubauen. Dazu 
steigt zunächst die warme bodennahe Luft im Aufwindbereich (engl. 
Updraft) in große Höhen auf. Als Ausgleichsbewegung bildet sich im 
weiteren Verlauf ein Abwindbereich (engl. Downdraft), in dem die 
kühlere Luft aus der oberen Troposphäre Richtung Boden strömt.

Eine Einzelzelle besteht lediglich aus einem einzigen Auf- und 
Abwindbereich. Bei der sogenannten "Multizelle" handelt es sich 
hingegen um einen Zusammenschluss mehrerer Gewitterzellen in 
verschiedenen Entwicklungsstadien mit mehreren Auf- und 
Abwindbereichen (siehe schematische Darstellung). Bildlich gesprochen
ist eine Multizelle eine große Gewitterfamilie, die sich zu einem 
Mehrgenerationenhaushalt vereint hat.

Alles beginnt mit einer Gewitterzelle, bestehend aus Up- und 
Downdraft. Diese Initialzelle wird - um beim Bild der Großfamilie zu 
bleiben - auch als "Mutterzelle" bezeichnet (Zelle 1). Sie bildet 
sich in einer Umgebung mit horizontalen Temperaturunterschieden. 
Entscheidend ist hierbei, dass dort der Wind mit der Höhe zunimmt und
dabei auch seine Richtung ändert - beides zusammen bezeichnet man als
vertikale Windscherung. (Auf die thermodynamischen Hintergründe 
dieses Zusammenhangs soll an dieser Stelle verzichtet werden und kann
der interessierte Leser im DWD-Lexikon nachlesen, Stichwort 
Baroklinität.) Durch die unterschiedlich starken Winde kann der 
Downdraft am Boden nicht wie bei der Einzelzelle symmetrisch 
ausfließen. Auf der warmen Seite des Gewitters fließt der Downdraft 
besonders stark aus, wodurch sich eine sogenannte Böenfront formiert.
Diese erkennen Sie als Beobachter daran, dass bereits vor dem 
aufziehenden Gewitter der Wind schlagartig und böig auffrischt und 
dabei die Temperatur abrupt sinkt. Die kalte und damit schwerere Luft
(engl. Outflow) schiebt sich "mit Schmackes" unter die Warmluft, 
sodass letztere an der Vorderseite der Böenfront gehoben wird. Der 
Aufwindbereich der zweiten Gewitterzelle, der sogenannten 
"Tochterzelle", ist hiermit geboren, während sich der Updraft der 
Mutterzelle wieder abschwächt. Durch den zusätzlichen Hebungsantrieb 
der ausfließenden Kaltluft fällt der Updraft der Tochterzelle oftmals
stärker aus als der der Mutterzelle. Da bei moderater Windscherung 
der Outflow mächtiger als die nach oben nachströmende Warmluft (engl.
Inflow) ist, läuft auch dieser Updraft in den Kaltluftbereich und 
schwächt sich ab. Unter günstigen Bedingungen können sich entlang der
Böenfront mehrfach hintereinander neue Tochterzellen bilden (Zellen 3
bis 5). Die heftigsten Niederschläge treten dabei im Bereich des 
stärksten Up- und Downdrafts hinter der Böenfront auf (Zelle 3).

Große horizontale Temperaturänderungen findet man zum Beispiel 
entlang einer Kaltfront. Im Sommer entsteht allerdings häufig schon 
im Vorfeld der Kaltfront, also noch im Warmluftbereich, ein flaches 
rinnenförmiges Tief, in das am Boden von beiden Seiten entlang einer 
Konvergenzlinie die Luft zusammenströmt und zum Aufsteigen gezwungen 
wird. Durch diese zusätzliche Hebung entwickeln sich dort oft die 
ersten Gewitter. Da vor der Kaltfront weiterhin Warmluft einfließt, 
nimmt der Wind mit der Höhe nicht nur zu, sondern wird zusätzlich 
nach rechts abgelenkt (thermischer Wind). Dies führt dazu, dass die 
Tochterzellen meist an der rechten Flanke der alternden Zellen 
entstehen, sodass die Verlagerung des Gewitterkomplexes 
diskontinuierlich wirkt und bezüglich der mittleren großräumigen 
Strömung etwas nach rechts ausschert.

Multizellen sind in Mitteleuropa die am häufigsten vorkommende 
Gewitterform. Sie besitzen einen Durchmesser von ca. 15 bis 30 
Kilometern und können im Extremfall mehrere Stunden existieren, 
wohingegen die einzelnen Zellen des Gewitterkonglomerats wie bei der 
Einzelzelle nur etwa 10 bis 60 Minuten bestehen. Ihre Dynamik ist 
wesentlich stärker, sodass die Wettererscheinungen heftiger als bei 
der Einzelzelle ausfallen. Dabei kommt es entlang der Böenfront zu 
Sturmböen sowie zu heftigem Starkregen mit Gefahr lokaler 
Überschwemmungen und mittelgroßem Hagel.

Im nächsten Teil dieser Serie geht es dann um die Superzelle...



Dr. rer. nat. Markus Übel
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale 
Offenbach, den 22.07.2023

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