Thema des Tages


Wissenschaft kompakt

Das Vermächtnis des Vernon Francis Dvorak


Zur Erinnerung an einen großartigen Wissenschaftler und Meteorologen.



Am 19. September des vergangenen Jahres ereilte uns Meteorologen die 
traurige Nachricht, dass der Wissenschaftler Vernon Francis Dvorak im
Alter von 93 Jahren im nordamerikanischen Kalifornien verstarb. Keine
Sorge, sollten Sie mit diesem Namen nichts anfangen, dann liegt das 
vor allem daran, dass sein eigentliches meteorologisches Interesse in
den Tropen lag. Viel ist über ihn als Person nicht bekannt, doch umso
mehr über seine Arbeit.

Herr Dvorak gilt als Erfinder der Intensitätsabschätzung tropischer 
Wirbelstürme, die bis heute mehr oder weniger Bestand hat und unter 
dem Begriff der "Dvorak Analyse" in Kreisen der Meteorologen 
Bekanntheit erlangte. Über 30 Jahre lang war und ist dies die 
wichtigste Grundlage, um die Intensität von tropischen Wirbelstürmen 
abschätzen zu können. Wie viele Menschenleben durch diese Methode 
gerettet wurden, kann man schwer sagen, es dürften aber Zehntausende 
sein, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Millionen Menschen 
weltweit in Regionen leben, die von tropischen Wirbelstürmen Jahr für
Jahr heimgesucht werden. Im Grunde kann man sich kaum eine andere 
meteorologische Innovation vorstellen, die so unbeschadet solch eine 
lange Zeit überstanden hat.

Für diese Intensitätsanalyse bedarf es Satelliten, die in 
regelmäßigen Abständen eine Flut von  Datensätzen zur Erde schicken 
und die dort von Meteorologen analysiert werden. In den 60-iger 
Jahren begann das Zeitalter der meteorologischen Satelliten mit 
Explorer (der erste Satellit für Wetterbeobachtungen im Jahr 1959), 
TIROS I (erster erfolgreicher Metsat im Jahr 1960), NIMBUS, TIROS und
wie sie alle noch so hießen, die in den 60-igern und 70-iger Jahren 
ins Weltall geschossen wurden. Mit der Zunahme an Satelliten wurde es
immer schwerer für die diensthabenden Meteorologen die Fülle an 
Informationen zeitnah zu interpretieren und zu verwerten, sodass 
Dvoraks Intensitätsabschätzung in Folge einer sogenannten 
"Wolkenmustererkennungstechnik" genau zur richtigen Zeit kam. Die 
ersten Erwähnungen dieser Methode der Intensitätsabschätzung tauchten
1972 auf und wurden in der Folge mehrmals u.a. von ihm aktualisiert.

Doch worum handelt es sich bei dieser Analyse eigentlich?

Grundsätzlich geht es darum, anhand der Wolkenstruktur des Sturmes 
die Intensität abschätzen zu können. Dazu werden vier Eigenschaften 
berücksichtigt: zwei kinematische und zwei thermodynamische 
Eigenschaften. 

Die kinematischen beschreiben mit der Vorticity (Wirbelstärke einer 
Strömung) und der vertikalen Windscherung (Windabnahme oder -zunahme 
mit der Höhe) die dynamischen Komponenten. 
Je stärker eine Störung bzw. je kräftiger ein Tropensturm ist, umso 
größer sind die Werte der Vorticity und umso besser bilden sich 
bestimmte Wolkenstrukturen aus, die in Bändern um das Zentrum des 
Sturms angeordnet sind und repräsentativ für die Intensität eines 
Sturmes sind. 
Für die Entstehung eines Tropensturms wird eine schwache Windscherung
bevorzugt, da eine zu starke Scherung den Sturm regelrecht 
auseinanderreißt (bzw. die Vorticity verringert). 

Die thermodynamischen Eigenschaften beinhalten die Ausprägung der 
Konvektion, denn je mehr Konvektion in der Nähe zum Zentrum zu finden
ist, umso mehr latente Wärme wird dort freigesetzt, die vereinfacht 
gesagt den Wirbel antreibt und den Sturm intensiviert. 
Die letzte Eigenschaft betrachtet die Temperaturverteilung in 
Zentrumsnähe, besonders dann, wenn sich ein Auge im Tropensturm 
ausgebildet hat. Dieses ist durch absinkende Luftmassen geprägt und 
je kräftiger der Sturm ist, umso wärmer fällt die Temperatur des 
Auges aus, was man mit Hilfe des Satelliten gut erkennen kann.

Die Durchführung dieser Intensitätsbestimmung ist ein sehr komplexes 
Verfahren, das u.a. durch die immer besseren Satellitendaten (vom 
sichtbaren Bereich bis in den Mikrowellenbereich) wiederholt 
angepasst und ausgebaut wurde.  

Die grundsätzliche Herangehensweise lautet: 

Finde das Zentrum der tropischen Störung, erstelle zwei 
Intensitätsabschätzungen, wähle die am besten passende Intensität aus
und wende die vorhandenen Regeln an. Diese Regeln beschreiben z.B. 
wie schnell sich ein tropischer Sturm über Land abschwächen darf, 
oder wie schnell er sich intensivieren darf. Diese Regeln sollten in 
den meisten Fällen nicht gebrochen werden, was aber nicht immer 
klappt (z.B. bei sich rasant intensivierenden tropischen Stürmen). 
Das endgültige Resultat ist eine Nummerierung, die von 1.0 bis 8.0 
geht, wobei 8.0 den perfekten Sturm darstellt. Der Supertaifun 
Haiyan, der im Jahr 2013 auf die Philippinen traf, erhielt diese 
höchste Einstufung und war letztendlich für mehr als 6350 Todesopfer 
und historische Schäden verantwortlich und auch der Hurrikan Patricia
erreichte im Ostpazifik im Jahr 2015 diesen Wert.

Zum besseren Verständnis wenden wir die Analyse stark vereinfacht an 
einem Beispiel aus dem Jahr 2020 an: Hurrikan EPSILON im 
Nordatlantik.
Beschrieben wird die Entwicklung des Hurrikans EPSILON im Jahr 2020 
über dem offenen Nordatlantik. In Bild 1 vom 18.10.2020 erkennt man 
eine gut ausgebildete Wolkenspirale/Bodenzirkulation, die mit einem 
roten Pfeil hervorgehoben wurde. Die eigentliche hochreichende und 
beständige Konvektion (gelb umrandet) ist noch sehr weit abseits 
dieses Zentrums zu finden. Wie bereits kurz erläutert ist es aber 
notwendig, dass eben diese Konvektion zentrumsnah entsteht, damit sie
u.a. durch Freisetzung latenter Wärme den Wirbel intensivieren kann. 
Häufig ist diese Art der Konvektionsverteilung Folge starker 
Windscherung oder zeigt ein frühes Entwicklungsstadium des Systems 
an. Zu diesem Zeitpunkt wurde diese Störung von den Meteorologen 
genau beobachtet, es gab aber noch keine Warnaktivität. Das erste 
Bild zeigt bereits wunderschön, wie sich die Konvektion in Art 
Spiralen um das Zentrum windet. Grundsätzlich intensiviert sich das 
System, je weiter sich die Konvektion entlang dieser Bänder nach 
Außen voran arbeitet (und natürlich zentrumsnah vorhanden ist).

Daher kommt für dieses Analyseverfahren eine logarithmische Spirale 
zur Geltung. Das Zentrum der Spirale liegt deckungsgleich über dem 
Zentrum des Sturmes. Die Konvektionsbänder sind entlang der 
logarithmischen Spirale angeordnet. Je mehr Bereiche der Spirale von 
den Konvektionsbändern eingenommen werden, umso kräftiger ist das 
System entwickelt. Eine detaillierte Beschreibung würde den Umfang 
des Tagesthemas jedoch sprengen.

Nur einen Tag später, am 19. Oktober, hat sich das Bild der Störung 
dramatisch verändert. Die Konvektion hat sich deutlich näher ans 
Zentrum herangearbeitet und im nördlichen und östlichen Quadranten 
des Systems konnte sich verbreitet langlebige und intensive 
Konvektion in Form hochreichender Gewitter- und Schauerwolken 
entwickeln. Die Störung war nun auf jeden Fall in der 
Entwicklungsphase und im Tagesverlauf wurden die ersten Warnungen 
herausgegeben. Die Störung erhielt offiziell den Namen EPSILON. 

Wiederum einen Tag später ist das Zentrum des Systems vollkommen von 
hochreichender und beständiger Konvektion bedeckt. Im Fachjargon 
spricht man davon, dass sich ein sogenannter "central dense overcast"
ausgebildet hat. Ins Umgangssprachliche übersetzt bedeutet dieser 
Begriff, dass ein Batzen hochreichender und langlebiger Konvektion 
das Zentrum bedeckt. Dies ist ein Anzeichen, dass das System nun 
immer mehr an Fahrt aufnimmt. Wir sprechen mittlerweile von einem 
kräftigen Tropensturm mit 1-min gemittelten Windgeschwindigkeiten von
100 km/h. In den Nachtstunden zum 21. Oktober wurde der Sturm dann zu
einem Hurrikan der Kategorie 1 auf der fünfteiligen Saffir-Simpson 
Skala hochgestuft.

Der Hurrikan EPSILON intensivierte sich weiter und es bildete sich 
das für einen Hurrikan nicht unübliche Auge aus, das sich im 
Tagesverlauf immer weiter erwärmte . Per Satellit und später auch 
durch Flugzeugmessungen von den sogenannten "Hurrikanjägern" 
bestätigt wurden Temperaturwerte im Auge von +14 und +15 Grad 
gemessen. Gleichzeitig stießen direkt um das Auge herum hochreichende
Gewitter- bzw. Schauerwolken bis in die oberste Troposphäre vor und 
wiesen Wolkenoberflächentemperaturwerte von teils bis zu -50 Grad 
auf. Je stärker dieser Temperaturkontrast "Auge -  
Oberflächentemperatur der Gewitterwolken" ausgeprägt ist, umso 
intensiver ist die Dynamik eines Tropensturms und es verwundert 
nicht, dass EPSILON an diesem Tag zu einem Kategorie 3 Hurrikan mit 
mittleren Windgeschwindgkeiten von mehr als 180 km/h (Mittelwind!) 
reifte. Gott sei Dank blieb dieser Sturm über dem offenen Atlantik 
und schwächte sich später ohne Landgang allmählich wieder ab.

Die Dvorak-Analyse ist deshalb von so großer Bedeutung, da es abseits
des Nordatlantiks und östlichen Nordpazifiks keine regelmäßigen 
Messflüge in Tropenstürme gibt, die Echtzeitdaten über die Intensität
des Sturmes liefern. Man ist somit in den meisten Regionen auf eben 
diese Intensitätsabschätzung angewiesen, um die Bevölkerung 
rechtzeitig vor sich rasant intensivierenden Tropenstürmen warnen zu 
können. Mithilfe dieser Analyse ist es somit weltweit möglich, auch 
auf den entferntesten Weltmeeren die Intensität eines Tropensturms 
ausreichend gut bestimmen zu können. Spezialisten, die mit dieser 
Methode durch ihre alltägliche Arbeit vertraut sind, können von daher
auch Schiffe und Bewohner auf Inseln sowie ganze Küstenabschnitte 
frühzeitig bewarnen und helfen dadurch, dass rechtzeitig 
Evakuierungen durchgeführt werden können. Perfekt ist die Methode 
sicherlich nicht. Es gibt immer wieder Stürme, die Überraschungen 
bereithalten, was z.B. auch auf EPSILON zutraf. Dennoch ist die 
Genauigkeit der Intensitätsbestimmung bei statistischen Auswertungen 
beeindruckend hoch, sodass dieses Verfahren bis heute nicht aus der 
Tropenmeteorologie wegzudenken ist.

Dieses Vermächtnis hat Vernon Francis Dvorak der Nachwelt 
hinterlassen und somit geht dieser unauffällig agierende 
Wissenschaftler/Meteorologe wohl unsterblich in die Geschichte der 
Meteorologie ein. 

Ein wahres Idol, ein stiller Held ? Ruhe in Frieden!




Dipl.-Met. Helge Tuschy 
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale 
Offenbach, den 04.02.2023

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