Thema des Tages
Wissenschaft Kompakt
Was sind Atmosphärische Flüsse?
An der Westküste der USA und auch in West- und Zentraleuropa kommt es
derzeit zu Perioden mit wiederholten und teils heftigeren
Niederschlagsereignissen. Solche Prozesse sind oftmals auf sogenannte
atmosphärische Flüsse zurückzuführen. Was das genau ist, klären wir
im heutigen Thema des Tages.
Flüsse schlängeln sich mal ruhig und still, mal mit tosender Gewalt
durch unsere Landschaften und Städte. Doch auch in der Atmosphäre
gibt es Flüsse, die jedoch kaum jemand (außerhalb des
Meteorologenkreises) kennt. Um richtige Flüsse handelt es sich dabei
natürlich nicht, aber "nass" ist es in den entsprechenden
Atmosphärenschichten schon. In der Atmosphäre findet zu jeder Zeit
und kontinuierlich ein Feuchtestrom von den (sub-)tropisch warmen
Bereichen nach Norden in die kühleren mittleren Breiten statt.
Gefördert wird dies durch rege Tiefdruckaktivität, die für das
Vermischen der unterschiedlich temperierten Luftmassen mit variablem
Feuchtegehalt verantwortlich ist.
In der Wissenschaft beschreibt ein atmosphärischer Fluss (engl.
atmospheric river) ein relativ schmales, gerichtetes Band
feuchtegesättigter Luft in 1 bis 2,5 km Höhe mit einer Breite von
etwa 500 km und einer Länge von rund 2000 km und mehr. Angetrieben
wird dieses Feuchteband zudem von starken Winden. Diese
"Wasserdampfförderbänder" bewegen sich daher mit dem Wetter und
transportieren dabei den größten Teil des Wasserdampfs außerhalb der
Tropen. Ein einzelner Atmosphärenfluss kann laut der NOAA (National
Oceanic and Atmospheric Administration) eine Wassermenge mit sich
führen, welche in etwa der 7,5 bis 15-fachen Menge entspricht, die
der Mississippi an seiner Mündung normalerweise führt. An der
Westküste Nordamerikas sind solche Strömungen schon länger aufgrund
ihrer Herkunft aus tropischen Meeresregionen des mittleren Pazifiks
rund um Haiwaii als "Ananas-Express" bekannt.
Atmosphärische Flüsse gibt es in vielen Formen und Größen und sie
treten nicht nur über dem Pazifik auf. In der Erdatmosphäre sind zu
jeder Zeit und pro Erdhalbkugel rund fünf solcher Wasserdampfströme
unterwegs. Die folgende Animation zeigt das in der Atmosphäre
verfügbare niederschlagbare Wasser aus dem ICON Modell, welches den
atmosphärischen Fluss von den Subtropen in die mittleren Breiten
sichtbar macht. Die atmosphärischen Flüsse nehmen eine zentrale Rolle
im globalen Wasserkreislauf ein. Sie sind für mehr als 90% des
globalen meridionalen (und damit polwärts gerichteten)
Wasserdampftransportes verantwortlich, obwohl sie so schmal
ausfallen. Es ist auch bekannt, dass atmosphärische Flüsse zu etwa 22
% des gesamten globalen Abflusses an der Erdoberfläche beitragen. An
der Westküste Nordamerikas sind rund 30-50 % des jährlichen
Niederschlages auf den ?Ananas-Express? zurückzuführen.
Auch hier in Europa erleben wir immer wieder solche
"Atmosphärenflüsse" (wie in Abbildung 1 derzeit auch erkennbar), die
vor allem den Westen Europas wie die Britischen Inseln, die Iberische
Halbinsel, Frankreich oder Norwegen heimsuchen können. Mit etwas
Abschwächung können sie auch Mitteleuropa beeinflussen. Bisher gibt
es jedoch für unsere Breiten noch keine entsprechende Namensnennung.
Welche Gefahren bergen nun solche atmosphärischen Flüsse? Wenn solche
Ereignisse auf das Festland treffen, geben sie den mitgeführten
Wasserdampf in Form von Niederschlägen ab. Nicht alle Flüsse
verursachen jedoch gleich Schäden. Die meisten sind schwache Systeme,
die nützlichen Regen oder Schnee liefern, der für die
Wasserversorgung wichtig ist.
Jene Flüsse aber, die die größten Mengen an Wasserdampf und die
stärksten Winde enthalten, können enorme Regenmengen verursachen,
wobei allerdings weitere Faktoren eine Rolle spielen. Wenn der Fluss
über einen längeren Zeitraum auf die gleiche Region trifft und
insbesondere mit einer senkrechten Komponente auf eine Gebirgskette
(z.B. Zentralmassiv in Frankreich oder Skandinavisches Gebirge in
Norwegen) gerichtet ist, dann muss im Stau mit sehr ergiebigen
Regenfällen gerechnet werden, die mehrere Tage andauern können. Zudem
sorgt die herangeführte, meist auch noch sehr warme Luft aus den
Subtropen dafür, dass die Schneefallgrenze außergewöhnlich hoch
ansteigt und somit in den Bergen nicht in Form von Schnee gebunden
werden kann. Das alles sind Bedingungen, die für einen erhöhten
Abfluss förderlich sind und somit die Hochwasser- und
Überschwemmungsgefahr deutlich erhöhen. Wie ausgeprägt diese Gefahr
ist, hängt auch davon ab, wie schnell sich so ein "Atmosphärenfluss"
verlagert. Insgesamt können diese Ereignisse in den
überschwemmungsgefährdeten Wassereinzugsgebieten Verkehrswege
unterbrechen, Schlammlawinen auslösen und damit verbunden
katastrophale Schäden an Infrastruktur verursachen oder gar
Menschenleben kosten.
Welchen Einfluss könnte nun der Klimawandel mit höheren Temperaturen
auf die "Atmosphärenflüsse" nehmen? Man geht davon aus, dass
atmosphärische Flüsse durch den Klimawandel um 25 % länger und um 25
% breiter werden und mehr Wasser führen werden. Dies könnte die
Bewirtschaftung der Wasserversorgung erheblich erschweren, da
gemäßigte atmosphärische Flüsse, die für die Wasserversorgung von
Vorteil sein können, seltener auftreten und starke Flüsse häufiger
und intensiver werden könnten.
Die Westküste der USA wird seit dem Jahreswechsel von einem
fortdauernden atmosphärischen Fluss mit einer Serie von kräftigen
Tiefdruckgebieten heimgesucht. Einzelne Niederschlagsevents luden
dabei rekordverdächtige Mengen teils zwischen 100 und 150 mm
innerhalb eines Tages ab. Aufsummiert über die vergangenen 14 Tage
kamen dabei verbreitet in Kalifornien 200 bis 500 mm (Abb. 2, links)
zusammen, was einer Abweichung von 300 bis 600 % zum Normalwert für
die Jahreszeit entspricht (Abb. 2, rechts). Wiederholte
Überschwemmungen, Murenabgänge, umgestürzte Bäume mit größeren
Stromausfällen waren die Folge und hielten die Einsatzkräfte
durchgehend beschäftigt. Leider wurden auch schon über ein Dutzend
Todesopfer gezählt. In den Hochlagen der Sierra Nevada fielen die
Niederschlagsmengen noch höher aus, wobei dort ein beträchtlicher
Teil in Form von großen Schneehöhenzuwächsen zu verzeichnen war.
Dabei wurden an nahezu 30 Stationen die bisher größte Schneedecke
registriert. Vielfach kletterte die Schneedecke dabei auf 175 bis 250
% des Normalwertes.
Über die nächsten Tage hält die rege Tiefdruckaktivität über dem
Pazifik an, wodurch weiterhin große Niederschlagssummen (nach dem
ICON bis zu 300 mm) abgeladen werden (siehe Abb. 3).
Auch bei uns in Deutschland hält die nasse Witterung mit Tiefs am
laufenden Band an, die sich auf einen atmosphärischen Fluss
(wenngleich einem schwächeren) vom Atlantik zurückführen lassen.
Regengebiete ziehen in den kommenden Tagen wiederholt über die
Bundesrepublik. Insbesondere in den westlichen und südlichen
Mittelgebirgen kommen teils ergiebige Summen zusammen (siehe Abb. 4).
In den dortigen Regionen dürfte an den Flüssen und Bächen die
Hochwassergefahr zunehmen.
M.Sc.-Met. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 11.01.2023
Copyright (c) Deutscher Wetterdienst
Diesen Artikel, eventuell im Text erwähnte Bilder und das Archiv der "Themen des Tages"
finden Sie unter www.dwd.de/tagesthema
Weitere interessante Themen zu Wetter und Klima finden
Sie auch im DWD-Wetterlexikon unter: www.dwd.de/lexikon