Thema des Tages
Samen im Warmen
Der weltweit größte Saatgutbestand auf Spitzbergen kommt langsam ins
Schwitzen. Wird das zum Problem?
Wir schreiben das Jahr 2200. Etliche Naturkatastrophen wie
Hochwasser, Waldbrände, Dürren, Sturzfluten, Erdbeben und
Vulkanausbrüche haben in den vergangenen Jahren gewütet. Grönland ist
nahezu abgeschmolzen. Der Meeresspiegel ist um über einen Meter
angestiegen. Ehemalige florierende Lebensräume sind weitestgehend
zerstört und die Menschheit hat sich zusätzlich durch Kriege
untereinander auf ein Minimum reduziert. Was für den Einen wie der
Drehbuchinhalt eines inszenierten Science-Fiction Blockbusters aus
Hollywood klingt, mag für den Anderen gar nicht so unrealistisch
erscheinen. Und, zu welcher Seite gehören Sie?
Doch um diese Frage soll es in diesem Artikel eigentlich gar nicht
gehen. Nur einmal angenommen, es würden die düstersten Szenarien
eintreffen; die Grundlage eines Neuaufbaus wäre im Fall der Fälle
zumindest vorhanden. Schließlich gibt es seit gut 12 Jahren das
Svalbard Global Seed Vault. Das was? Hierbei handelt es sich um den
weltweiten Saatgutbestand, der in einem "Tresor" auf Spitzbergen
eingelagert ist. Das beigefügte Bild zeigt den oberirdischen Teil des
Tresoreingangs. Gewissermaßen kann man den Vorratsspeicher mit einer
Arche Noah für Nutzpflanzen vergleichen. Natürlich ist das nicht die
einzige Samenbank, nein besser: Aufbewahrungsstätte für Samen
weltweit (mehr als 1400 sind gelistet), aber bezüglich der Arten und
Varietäten-Diversität von Nutzpflanzen die größte. In dem
unterirdischen Bunker, der aus drei Lagerhallen mit insgesamt rund
800 Quadratmetern Fläche besteht, können bis zu 4,5 Millionen
Samenproben lagern. Da eine Probe in der Regel 500 Samen umfasst,
herrscht insgesamt Platz für 2,25 Milliarden Samen. Sollten also
beispielsweise einmal alle Reis- und Kartoffelpflanzen zerstört sein
und auch keine Samen mehr gerettet werden können, kann die Aufzucht
dank dieser Rücklagen neu beginnen.
Aber was, wenn diesen wertvollen Reserven nun etwas zustößt? Nun muss
man nicht gleich wieder vom schlimmsten Raubtier der Erde - dem
Menschen - als Übeltäter ausgehen. Nein, auch die natürlichen
Umstände und sich daraus ergebende ständige Anpassungen der Bauweise
sind äußerst komplex. Der Ursprungsgedanke war klar: Ein idealer
Lagerort muss trocken, dunkel und vor allem kalt sein. Das Saatgut
wird durch sogenannte Kälteverdichter bei -18 Grad Celsius gekühlt
gelagert. Bei derartigen Bedingungen liegt die Haltbarkeit von
Sonnenblumensamen beispielsweise bei rund 55 Jahren, bei Weizen um
die 1200 Jahre und bei Erbsen sogar über 10000 Jahre. Gealterte Samen
werden selbstredend regelmäßig erneuert. Der Tresor wurde
ursprünglich so entworfen, dass die Samen auch im Falle eines
Totalausfalls der Kühlsysteme und ohne menschliche Überwachung einen
längeren Zeitraum überstehen können. Sollten die Kühlsysteme trotz
vorhandener Notstromaggregate doch einmal ausfallen, sorgt der
"umhüllende" Permafrostboden dafür, dass die Temperatur nicht über
-3,5 Grad ansteigt. In der Theorie...
Denn der Klimawandel hinterließ schon erste Spuren. Die
Jahresdurchschnittstemperatur liegt in Longyearbyen, dem
nächstgelegenen Ort des Saatbunkers auf Spitzbergen bei -5,6 Grad.
Bis vor kurzem bewegten sich die Tageshöchstwerte meist zwischen 10
und 15 Grad in den Spätsommermonaten. Allerdings häuften sich in den
letzten Jahren neue Temperaturrekorde. Just am 25. Juli diesen Jahres
wurde eine Höchsttemperatur von 21,7 Grad in Longyearbyen gemessen.
An vier Tagen in Folge stieg das Thermometer auf über 20 Grad. Laut
Professor Kim Holmen vom Norwegischen Polarinstitut erwärmt sich die
Arktis doppelt so schnell wie der Rest des Planeten. Offenes Wasser
kann die Sonnenstrahlen stärker absorbieren als helle Schnee- und
Eisflächen (Stichwort: Albedo) und die Wärme besser speichern. Ist
kein Eis mehr da, muss die Energie der Sonnenstrahlung nicht erst in
den Schmelzprozess gesteckt werden, sondern kann direkt Land- und
Wassermassen erwärmen. Noch dramatischer sieht es für die Zukunft
aus. Versucht man den weltweiten Temperaturanstieg bis ins Jahr 2100
auf maximal 2 Grad zu begrenzen, würde das - selbst im Erfolgsfall -
laut Berechnungen der Klimamodelle auf Spitzbergen einer Zunahme von
knapp 7 Grad entsprechen. Die Folge: Die Permafrostböden tauen bis in
tiefe Bodenschichten auf. Infolge eines warmen Winters 2016/2017
drang im Frühjahr bereits Tauwasser durch die Wände des
Eingangstunnels ein. Die baulichen Anpassungen (betonierte
wasserdichte Wände, Entwässerungsscharten, Verlegung
wärmeproduzierender technischer Einheiten) verschlangen rund 20
Millionen Euro und werden vielleicht nicht die letzten gewesen sein.
Auch wenn es eine gewisse Sicherheit gibt, eine derart (vermeintlich)
zukunftssichere Saatbank in der Hinterhand zu wissen, so sollten
politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen national
und international lieber gebündelt werden, um den Erhalt bereits
bestehender Ökosysteme zu schützen. Damit das düstere Szenario im
Endeffekt nicht doch bittere Realität wird...
Dipl.-Met. Robert Hausen
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 11.10.2020
Copyright (c) Deutscher Wetterdienst
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